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I. Allgemeines

Dieses Blog dokumentiert wissenschaftliches Fehlverhalten in der im Oktober 1974 an der damaligen Abteilung für Sozialwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum eingereichten Dissertation von Prof. Dr. Norbert Lammert, die 1976 in Buchform veröffentlicht wurde.

Die nachfolgende Gliederung entspricht der Struktur der Arbeit; auf den rot hervorgehobenen 53 Seiten finden sich Passagen aus 24 Quellen, bei denen ich Unregelmäßigkeiten festgestellt habe. Hierbei handelt es sich teilweise um Plagiate im engeren Sinne (die Stellen, die ich als solche einstufe, sind unter II. aufgeführt), teilweise auch um andere Formen von Verstößen gegen die gute wissenschaftliche Praxis. Ergiebigste Gesamtquelle für regelwidrige Übernahmen scheint ein Sammelband des Politologen Wolfgang Jäger zur Parteienforschung zu sein. Insgesamt gibt der Verfasser vor, eine Literaturrezeption geleistet zu haben, die er in diesem Umfang nicht selbst erbracht hat. Einen erheblichen Teil der als verwendet angegebenen Literatur hat er ganz offenbar nicht gelesen; dies wird insbesondere anhand der Übernahme zahlreicher charakteristischer Fehler aus dem Teil der Literatur deutlich, der wohl tatsächlich nur verwendet worden ist. U.a. sind auch die häufig inkonsistenten bibliografischen Angaben zu angeblich bearbeiteten Zeitschriftenaufsätzen auffällig: So gibt er in vielen Fällen statt des Jahrgangs einer Zeitschrift – nicht etwa zusätzlich dazu – eine „Nr.“ an, die sich aber als Jahrgangsangabe bzgl. des entsprechenden Aufsatzes in einer der benutzten Quellen wiederfindet. Genuine Fehler des Verfassers – also solche, die nicht mit Übernahmen aus Sekundärquellen im Zusammenhang stehen – habe ich in der Regel nicht erfasst. Die Arbeit enthält einen Hauptteil von 116 Seiten, auf denen ein wissenschaftlicher Diskurs stattfindet. Inhaltsverzeichnis, Vorwort des Herausgebers, Vorbemerkung, Dokumentation, Literaturverzeichnis und Sachregister habe ich nicht gesondert untersucht. Der 91 Seiten umfassende Dokumentationsteil, dessen einzelne Punkte und Unterpunkte nicht in der Gliederung aufgeführt sind, besteht lediglich aus der Reproduktion von Satzungen, Anträgen, Geschäftsberichten, Rundschreiben etc. pp.

Vorbemerkung: Der Verfasser weiß, dass auf die Herkunft von Literatur, die ihm nicht vorliegt und die er aus Sekundärquellen referiert, ausdrücklich zu verweisen ist, da er dies in Fußnote 53 auf S. 26 und in Fußnote 2 auf S. 33 mit „zitiert nach“ so praktiziert.

 

Inhaltsverzeichnis [V]

Vorwort des Herausgebers [IX]

0. Vorbemerkung [XI]

 

1. Parteienforschung – Anmerkungen zum Verlauf und Stand der wissenschaftlichen Diskussion [001]

→ 001 – 002

   1.1. Theoretische Ansätze [002]

   → 002 – 003004005 – 006 – 007

   1.2. Empirische Untersuchungen [007]

   → 007008009010

   1.3. Entwicklungstendenzen [010]

   → 010 – 011012 – 013

 

2. Demokratie in Organisationen [014]

→ 014 – 015

   2.1. Parteien als Organisationen [016]

   → 016017018019 – 020 – 021

   2.2. Problemfelder innerorganisatorischer Demokratie [021]

   → 021

     2.2.1. Führungs- und Machtverhältnisse [021]

     → 021 – 022 – 023

     2.2.2. Umweltbedingungen und -einflüsse [023]

     → 023024025

     2.2.3. Organisationsstrukturen [025]

     → 025 – 026 – 027

     2.2.4. Innerorganisatorischer Wettbewerb [027]

     → 027028029 – 030

   2.3. Problemverschiebungen [030]

   → 030 – 031

   2.4. Problemstellung [031]

   → 031032

 

3. Parteien im Parteienstaat [033]

033

   3.1. Die formalen Voraussetzungen [033]

   → 033 – 034 – 035 – 036

   3.2. Die realen Verhältnisse [036]

   → 036037038039

   3.3. Aufgaben und Funktionen [039]

   → 039 – 040 – 041

 

4. Politik in Gemeinden [042]

→ 042

   4.1. Gemeindeerlebnis [042]

   → 042 – 043 – 044 – 045046 – 047

   4.2. Politikerlebnis [047]

   → 047 – 048 – 049 – 050 – 051

   4.3. Gemeindliche Interessenvertretung [051]

   → 051052053 – 054 – 055

 

5. Partizipation in Parteien – Regionale und nichtregionale Organisationsstrukturen als Partizipationsfelder innerparteilicher Willensbildung [056]

→ 056 – 057 – 058

   5.1. Die innerparteiliche Organisationsstruktur auf kommunaler Ebene [058]

   → 058

     5.1.1. Gliederung der Parteiorganisation (Ortsverbände – Vereinigungen – Arbeitskreise/Kommissionen/Ausschüsse) [058]

     → 058 – 059 – 060

     5.1.2. Funktionen und Bedeutung der Parteiorgane (Parteitag, Parteiausschuß, Parteivorstand) [060]

     → 060 – 061 – 062 – 063 – 064 – 065 – 066 – 067 – 068 – 069

     5.1.3. Mitglieder- und Führungsstrukturen [069]

     → 069 – 070 – 071 – 072 – 073 – 074

   5.2. Die Leistungsfähigkeit regionaler Organisationsstrukturen [074]

   → 074 – 075

     5.2.1. Artikulationsfunktion [075]

     → 075 – 076 – 077

     5.2.2 Integrationsfunktion [077]

     → 077078079 – 080

     5.2.3. Kommunikationsfunktion [080]

     → 080 – 081 – 082

     5.2.4. Selektionsfunktion [082]

     → 082 – 083 – 084 – 085

   5.3. Der Beitrag nichtregionaler Organisationsstrukturen [085]

   → 085 – 086

     5.3.1. Die Vereinigungen [086]

     → 086 – 087 – 088 – 089 – 090 – 091 – 092 – 093

     5.3.2. Die Arbeitskreise und Kommissionen [093]

     → 093 – 094 – 095 – 096

   5.4. Die Öffentlichkeitswirkung der kommunalen Parteiorganisation [096]

   → 096 – 097 – 098 – 099 – 100

   5.5. Reformansätze innerparteilicher Organisationsstrukturen [100]

   → 100

     5.5.1. Partizipation und Interesse [100]

     → 100101 – 102 – 103 – 104 – 105

     5.5.2. Demokratie und Effizienz [105]

     → 105 – 106 – 107

     5.5.3. Konfliktregelung und Kompetenzverteilung [107]

     → 107 – 108 – 109

     5.5.4. Partizipationschancen eines regional- und problemorientierten Organisationsmodells [110]

     → 110

       5.5.4.1. Artikulationsfunktion [110]

       → 110 – 111

       5.5.4.2. Integrationsfunktion [111]

       → 111112

       5.5.4.3. Kommunikationsfunktion [112]

       → 112 – 113

       5.5.4.4. Selektionsfunktion [113]

       → 113 – 114

     5.5.5. Politisierung der Parteien [114]

     → 114 – 115 – 116

 

Dokumentation [117]

Literaturverzeichnis [208]

Sachregister [223]

 


 

II. Zur Promotionsordnung

Wie in vergleichbaren Fällen stellt sich auch in diesem die Frage, ob die untersuchte Arbeit gemäß der Bestimmungen der zur Zeit ihrer Abfassung gültigen Promotionsordnung (s. V.) angefertigt worden ist. Im hier interessierenden Zusammenhang dürften aus dieser vor allem § 1 Abs. 2 Satz 2 1. Halbsatz, demzufolge die Dissertation „die Fähigkeit des Promovenden zu selbständiger wissenschaftlicher Forschung nachweisen“ soll, und § 4 Abs. 2 lit. g) relevant sein. Diese Bestimmung fordert „eine Versicherung darüber, […] daß alle Hilfen und Hilfsmittel angegeben, insbesondere die wörtlich oder dem Sinne nach anderen Veröffentlichungen entnommenen Stellen kenntlich gemacht wurden“.

Auch bei einer restriktiven Interpretation des Begriffs „Stellen“, die reine Literaturverweise nicht umfasst, stufe ich als solche, die dem Sinne nach anderen Veröffentlichungen entnommen, jedoch vom Verfasser nicht kenntlich gemacht wurden, mindestens folgende ein (hinter der Seitenzahl sind ggfs. die Farben, mit denen diese unterlegt sind, angegeben):

Meines Erachtens liegt also – allein auf den letzten Punkt des genannten Buchstabens bezogen – in etlichen Fällen ein Verstoß gegen die Promotionsordnung vor und hat der Verfasser diese obligatorische Versicherung wahrheitswidrig abgegeben.

 


 

III. Offenbar erfundene angebliche Inhalte

An mindestens zwei Stellen verwendet der Verfasser offenbar aus den Quellen übernommene Belege, die in dem jeweiligen neuen Zusammenhang keine sind, für eigene Aussagen. Bei der ersten Stelle verweist er einmalig auf einen Aufsatz, mit dem keinerlei inhaltliche Auseinandersetzung erkennbar ist und der ihm wohl nicht vorliegt; auch bei der zweiten ist die Annahme zumindest einer billigenden Inkaufnahme einer Falschdarstellung plausibel, da es deutliche Hinweise darauf gibt, dass er Eldersvelds Buch, auf das er verweist, gar nicht gelesen hat. Nach den Leitlinien guter wissenschaftlicher Praxis der Universität Bochum liegt wissenschaftliches Fehlverhalten vor, „wenn in einem wissenschaftserheblichen Zusammenhang bewusst oder grob fahrlässig Falschangaben gemacht werden“. Die Stellen im Einzelnen:1

1 Ob auch diese „keinen hinreichenden Verdacht auf ein wissenschaftliches Fehlverhalten“ begründen, wie es die Ruhr-Universität in ihrer entsprechenden Presseerklärung formuliert hat, mag der geneigte Leser selbst beurteilen.

 


 

IV. Zusammenfassung

Ich werfe dem Verfasser drei Kategorien von Verstößen gegen die gute wissenschaftliche Praxis vor:

  • „Diskurssimulation“: Der Verfasser diskutiert Titel, die er wahrscheinlich nicht selbst gelesen hat. Dies ergibt sich für mich in der Regel aus aus den Quellen übernommenen Fehlern. Hierbei macht er sich – immer etwas abgewandelt – Interpretationen Dritter zu eigen. Als Beispiel nenne ich die Diskussion von Comparative Politics: A Developmental Approach von Gabriel A. Almond und G. Bingham Powell, Jr.

    Diese Kategorie enthält die gravierendste Art von beobachtetem Fehlverhalten und stellt einen relativ schwerwiegenden Verstoß gegen die gute wissenschaftliche Praxis dar. Da der Verfasser in diesen Fällen eine fremde – wenn auch meist kurze – Rezeptionsleistung als eigene ausgibt, fällt dies m.E. nicht mehr unter „handwerkliche Schwäche“.

  • Übernahme von Literaturverweisen Dritter, wobei dem Verfasser diese Literatur zumindest teilweise offenbar nicht vorliegt, was ich wiederum in der Regel an übernommenen Fehlern festmache. Als Beispiel nenne ich Seite 52. Bei Literaturverweisen wird der Leser generell davon ausgehen, der Verfasser habe sich selbst mit der Literatur beschäftigt und verweise deshalb auf sie und habe die Angaben nicht nur aus zweiter Hand abgeschrieben.
  • „Blindzitate“: Der Verfasser zitiert an etlichen Stellen Autoren, deren Werke er nicht im Original vorliegen hat, sondern nur über wörtliche Zitate Dritter kennt. Als Beispiel sei hier ein bei Norbert Blüm fehlerhaft wiedergegebenes Zitat von Kurt Sontheimer genannt. Diese Art von Verstößen ist die am wenigsten gravierende, für die allein ich mit der gutachterlichen Bewertung als „vermeidbare Schwächen in den Zitationen“ übereinstimme.

Eine 80 Titel umfassende Liste, die vom Verfasser als verwendet angegeben werden, ihm aber vermutlich nicht vorliegen, finden Sie hier. Zum groben Vergleich: Das Literaturverzeichnis der vorliegenden Arbeit enthält 314 Einträge.

 


 

V. Download

  • Um die Übersichtlichkeit der Dokumentation zu erhöhen, stelle ich diese als durchsuchbare PDF-Datei (Stand: 21.09.2014) bereit. Entsprechungen zwischen der Dissertation und ihren Quellen sind hierbei farblich kenntlich gemacht.
  • Die Promotionsordnung der Abteilung für Sozialwissenschaft der Ruhr-Universität von 1967 finden Sie hier ebenfalls im PDF.
  • Der Verfasser hat einen Scan der Arbeit (nicht durchsuchbares PDF, ca. 25 MB) auf seiner Homepage zur Verfügung gestellt.

 


 

VI. Kommentar

Das Rektorat der Universität Bochum lehnt die Eröffnung eines Verfahrens zur Aberkennung des Doktorgrades ab und erkennt lediglich „vermeidbare Schwächen in den Zitationen“ in der Arbeit des Verfassers, ohne dass die Dissertation vor dieser Entscheidung von den Gutachtern zumindest mit allen als verwendet angegebenen Quellen abgeglichen worden wäre. Der öffentlichen Ankündigung des damaligen Rektors Elmar Weiler von Anfang August 2013, „das Prüfverfahren ’so transparent wie möglich‘ zu gestalten“, sind keine Taten gefolgt: Eine dürre Pressemitteilung, die naturgemäß auf die hier dokumentierten fragwürdigen Passagen nicht im Detail eingeht und ohne nähere Begründung behauptet, der Verdacht des Plagiats oder der Täuschung sei „keineswegs“ gerechtfertigt, stellt sicher keine größtmögliche Transparenz dar.1

Insbesondere sind die Analysen bzw. Gutachten (und die Stellungnahme des Verfassers zu den Vorwürfen), aufgrund derer die Entscheidung zur Ablehnung der Eröffnung eines Verfahrens getroffen worden ist, bis heute nicht veröffentlicht worden, sodass man weder nachvollziehen kann, wie gründlich die Gutachter gearbeitet haben (um sich ein fundiertes Urteil zu bilden, mussten sie sich nicht nur die Quellen, sondern i.d.R. auch die Quellen der Quellen besorgen; in welchem Umfang dies erfolgt ist, ist unklar), noch warum die zahlreichen Fehler hinsichtlich der Quellenangaben und Literaturverweise, die identisch in der Sekundärliteratur zu finden sind, nach deren Ansicht keinen hinreichenden Verdacht begründeten, der Verfasser habe die entsprechenden Primärquellen nicht gelesen bzw. – insoweit dies eingeräumt wird – inwiefern der Leser hierdurch nicht über den Umfang der von ihm selbst erbrachten wissenschaftlichen Leistung getäuscht werde und warum bei den unter II. aufgeführten, dem Sinne nach anderen Veröffentlichungen entnommenen Stellen kein Verstoß gegen die Promotionsordnung vorliege. In diesem Zusammenhang wäre zu fragen, ob der Verfasser denn, wenn er an sehr vielen Stellen die offenbar nicht gelesenen Titel ordnungsgemäß mit „zitiert nach“ zitiert hätte, sich nicht der Gefahr einer schlechteren Benotung ausgesetzt hätte und dies auch deshalb unterlassen hat.2 Interessant wäre auch zu wissen, ob der unbekannte Ersteller der juristischen Beurteilung des Sachverhalts sich mit der Frage befasst hat, ob die hier dokumentierten zahlreichen übernommenen bibliografischen, aber auch inhaltlichen Falschangaben des Verfassers möglicherweise als grob fahrlässig einzustufen sind. Wenn man sich z.B. Übernahmen wie auf Seite 52 oder eine offenbar simulierte Literaturrezeption wie auf Seite 32 ansieht, ist diese Annahme nicht ganz unplausibel. Doch all dies ist nicht bekannt. Man könnte die Tatsache, dass die Akten des Verfahrens von der Ruhr-Universität weiterhin unter Verschluss gehalten werten, auch als Wortbruch des Rektors gegenüber der Öffentlichkeit werten, da ein solches Verhalten das genaue Gegenteil von Transparenz darstellt.3

Weiterhin lassen sich aus der in der Pressemitteilung verlautbarten Einschätzung des als externer Gutachter fungiert habenden Sozialhistorikers Jürgen Kocka, der befand – freilich ohne die Arbeit vollständig auf Übernahmen untersucht zu haben, was aber methodisch eine Voraussetzung für ein fundiertes Urteil über deren Relevanz gewesen wäre –, die beanstandeten Passagen hätten nur eine „begrenzte Bedeutung […] in Bezug auf die wissenschaftliche Gesamtleistung der Dissertation“, keine so eindeutigen Schlüsse ziehen, wie insinuiert wird: In einem Urteil aus dem Jahr 2008 hat z.B. der VGH Baden-Württemberg entschieden, dass es auf „den Umfang der abgeschriebenen Stellen sowie auf die Frage, ob die Arbeit auch ohne das Plagiat noch als selbständige wissenschaftliche Arbeit hätte angesehen werden können“, grundsätzlich nicht ankomme. In einem anderen prominenten Fall hat das Verwaltungsgericht Köln geurteilt, „dass die Reproduktion fremder Inhalte ebenfalls von eigenen Wertungen geprägt ist und deshalb genau so den wissenschaftlichen Zitierregeln unterliegt wie die Schöpfung gänzlich neuen Inhalts.“ Es ist erstaunlich, dass die Ruhr-Universität angesichts solcher Urteile die systematischen Verstöße eines eigenen Hochschulangehörigen gegen diese Regeln in einer Qualifikationsschrift als vernachlässigbare Unzulänglichkeiten einstuft. Aber vielleicht hat man sich dort mit der einschlägigen Rechtsprechung ja auch gar nicht erst beschäftigt.

Für u.a. Stellen wie auf Seite 78 ist der ehemaligen Bundesbildungsministerin an der Philosophischen Fakultät der Universität Düsseldorf der Doktorgrad entzogen worden. Wer eine solche Übernahme als „Schwäche in der Zitation“ und nicht als vorgetäuschte Literaturrezeption und damit als Plagiat bewertet, muss schon beide Augen sehr fest zudrücken.4 Die generelle Arbeitsweise des Verfassers kann durchaus als zumindest eine billigende Erregung eines Irrtums über den Umfang der erbrachten Rezeptionsleistung in Kauf nehmend bezeichnet werden, denn nur über Sekundärliteratur rezipiert wurden offenbar ca. 80, d.h. immerhin rund ein Viertel der als verwendet angegebenen Titel. In Bochum scheinen die Standards daher deutlich bescheidener zu sein, wenn es sowohl optional ist, dass der Autor einer wissenschaftlichen Publikation hinreichend zwischen eigener und fremder intellektueller Leistung trennt, als auch, dass er die Literatur, über die er schreibt, überhaupt gelesen hat.

Man muss den früheren Cusanusstipendiaten Norbert Lammert keinen abgefeimten Betrüger nennen wollen; angesichts der zahlreichen Stellen, an denen eine Auseinandersetzung mit offenbar tatsächlich nie rezipierten Texten suggeriert wird, scheint jedoch die Vermutung plausibel, dass er seine thematisch eng begrenzte Untersuchung systematisch mit unzulässigen Mitteln aufzuwerten versucht hat.

Fraglich ist schließlich noch, ob das von der Ruhr-Universität nach ihren „Leitlinien guter wissenschaftlicher Praxis“ durchgeführte Verfahren in diesem Fall mit dem Hochschulgesetz und dem Verwaltungsverfahrensgesetz des Landes Nordrhein-Westfalen vereinbar war. Die zentralen Kritikpunkte sind, kurz zusammengefasst:

  • Die Fakultät für Sozialwissenschaft hat keine eigene Untersuchung der Dissertation anlässlich der hier erhobenen Vorwürfe vorgenommen. Dies wäre aber erforderlich gewesen, da ihr das Promotionsrecht und das Prüfungswesen obliegen.
  • Dem Rektorat fehlte für die Entscheidung, kein Aberkennungsverfahren zu eröffnen, die Zuständigkeit. Eine solche hätte die in Promotionsangelegenheiten zuständige Behörde, d.h. die Fakultät, treffen müssen.

Doch wo kein Kläger, da kein Richter. Eine ausführliche rechtliche Analyse zu einem an einer benachbarten Hochschule verhandelten Fall, in dem in ähnlicher Weise verfahren wurde und die im Wesentlichen übertragbar ist, finden Sie hier.

1 Ungewollt wird die Berechtigung dieses Verdachts sogar durch den Doktorvater des Verfassers, Erwin Faul, bestätigt, der im FOCUS (09.08.2013) erklärte, er sei sich “zumindest sicher, dass Lammert nicht abgeschrieben hat. Sein Doktorand habe äußerst akribisch getüftelt und viel US-amerikanische Fachliteratur zu Rate gezogen”. Genau das lässt sich aber durch die zahlreichen übernommenen Fehler – die auch von der Universität eingeräumt werden – aus der Sekundärliteratur, in der eben diese Fachliteratur behandelt wird, widerlegen: Von den gut 40 als rezipiert angeführten englischsprachigen Titeln hat er wohl gerade mal zwei tatsächlich gelesen. Prof. Faul scheint sich insofern über den Umfang der vom Verfasser erbrachten wissenschaftlichen Leistung getäuscht zu haben; ob dessen Äußerung zur Kenntnis genommen wurde, ist nicht bekannt. – Angesichts solcher Stimmen mutet es doch schon etwas gewagt an, eine mögliche Täuschung kategorisch in Abrede zu stellen.
2 Am 01.08.2013 hat Prof. Weiler in einem Interview mit der „Welt“ auf die Frage, ob er schon einmal aus einem Werk zitiert habe, das er nicht in der Hand gehalten habe, übrigens geantwortet: „Ich glaube, das habe ich nicht getan. Der Punkt ist, dass man das beim Zitieren angeben müsste.“ Drei Monate später spielte es für ihn keine Rolle mehr, dass der Verfasser in einer im oberen zweistelligen Bereich anzusiedelnden Anzahl von Fällen gegen dieses – diesem auch selbst bekannte – Prinzip verstoßen hat. (Dessen öffentliche Beteuerung, seine Arbeit „nach bestem Wissen und Gewissen“ verfasst zu haben, erweist sich somit auch als klassische Schutzbehauptung: Hätte er das tatsächlich getan, gäbe es diese Dokumentation nicht; es ist sogar verhältnismäßig einfach, formal einwandfreie wissenschaftliche Arbeiten zu verfassen.)
3 Dem WDR wurde Ende Juli 2014 auf Anfrage Einblick in das Gutachten verwehrt.
4 Die Anmerkung Weilers, „durch die Methode der digitalen Auswertung, mit der Plagiatsjäger häufig vorgingen, gehe leicht der Kontext verloren. Dieser sei jedoch wichtig sei [sic], um beurteilen zu können, ob es sich tatsächlich um die Übernahme geistigen Eigentums ohne Kennzeichnung handle“, geht fehl: Abgesehen davon, dass ich die hier dokumentierten Stellen nicht durch einen softwaregestützten Textvergleich gefunden und ohne nähere Prüfung publiziert habe – wie implizit unterstellt –, ist z.B. bei der genannten Stelle für den Leser nicht einmal zu erahnen, dass der Verfasser a) Ausführungen Kösers nur etwas umschreibt und b) ihm die englischsprachige Originalliteratur wahrscheinlich gar nicht vorliegt. Wenn eine solche Stelle dadurch entschuldigt wird, dass er die Quelle Köser für eine Aussage, die mit den angeführten Autoren Bingham / Powell gar nichts zu tun hat, mit einer anderen Seitenzahl im Umfeld nennt, erteilt man für diese Klasse von Fällen einen Freibrief zum Abschreiben.

 


 

VII. Sonstiges